Selbstmitgefühl: Wie Sie in sich einen guten Freund finden

Es ist ein merkwürdiger Paradox: Wenn ich mich so akzeptiere wie ich bin, kann ich mich ändern.

Carl Rogers

Im Zuge der Covid-19 Pandemie leidet jeder Dritte an einer Angststörung, Depression oder Anzeichen einer Traumatisierung. Dies ist eine deutlich höhere Rate als zuvor. [1] Diese Daten aus einer im März 2022 veröffentlichten Studie geben einen Einblick in das Ausmaß der Gefährdung der Pandemie für unsere psychische Gesundheit.

Abhilfe gegen diese außergewöhnliche psychische Belastung kann möglicherweise ein jahrtausendaltes buddhistisches Konzept schaffen, das sich in den letzten 20 Jahren im Westen stetig wachsender Beliebtheit erfreut: Selbstmitgefühl (englisch: „self-compassion“). Generell versteht man darunter einen wohlwollenden Umgang mit sich selbst, besonders in Zeiten, in denen negative Gefühlen wie Angst, Ungewissheit, und Trauer überwiegen. Eben dann, wenn man Unterstützung am nötigsten hat.

So ergab eine neue Covid-19-Studie, dass Menschen mit mehr Selbstmitgefühl weniger anfällig für Depressionen, Angststörungen, und Stress waren. Bedeutenderweise wurden diese Effekte in 21 Ländern und mehreren Kontinenten beobachtet. [2] Selbstmitgefühl agiert also als eine Art „Puffer“, der zwischen dem Erfahren einer stressigen Situation (z.B. Pandemie) und dem Erleiden von Symptomen einer psychischen Störung steht. Im Zuge der Covid-19-Pandemie geht der puffernde Effekt von Selbstmitgefühl scheinbar auch auf eine erhöhte Toleranz von Ungewissheit (z.B. bezogen auf die Zukunft) zurück und folglich einem geringerem Angstempfinden vor Covid-19. [3]

Reflexion: Mitgefühl vs. Selbstmitgefühl

Wie behandle ich meine: beste:n Freund:in und wie gehe ich mit mir selbst um?

  1. Atmen Sie einige Male tief ein und langsam aus. Nutzen sie dabei die gesamte Kapazität ihrer Lungen.
  2. Erinnern Sie sich an eine Situation in letzter Zeit, in der ein guter Freund oder eine gute Freundin Ihnen von einem Ereignis in seinem bzw. ihrem Leben erzählt hat, bei dem etwas missglückt ist oder nicht wie erhofft gelaufen ist.

    Beispiel: Max hat am Dienstag vergessen nach der Arbeit einkaufen zu gehen, obwohl er es seiner Partnerin am Montagabend versprochen hatte.
    (Alternative: Wenn ihnen keine solche Situation einfällt, nehmen sie einfach das oben erwähnte Beispiel und wenden dies auf eine ihnen nahestehende Person an.)
  3. Was haben Sie Ihrem Freund bzw. Ihrer Freundin in dieser unangenehmen Situation gesagt? Was haben Sie getan?
  4. Hätten Sie dasselbe zu sich gesagt, wenn Sie selbst in der Situation gewesen wären? Warum (nicht)?

Wenn Sie jetzt feststellen, dass Sie ja ganz anders mit sich selbst umgehen als mit anderen, ist das kein Grund zur Sorge. Das geht sehr vielen Menschen so. Und Studien haben gezeigt, dass Selbstmitgefühl wunderbar trainierbar ist!

Was ist Selbstmitgefühl?

Das Konzept des Selbstmitgefühls fand Anfang der 2000er Jahre Eintritt in die westliche Psychologie. Entscheidend hierfür war die amerikanische Forscherin Kristen Neff, die den Begriff des Selbstmitgefühls aus westlicher Sicht auf Basis buddhistischer Lehre definierte und hierzu in drei Komponenten teilte. [4] Diese Komponenten wirken zusammen, beeinflussen sich gegenseitig, und führen insgesamt dazu, dass eine Person Selbstmitgefühl erlebt.

Wie im Buddhismus unterscheidet Neff nicht konzeptionell zwischen Mitgefühl und Selbstmitgefühl. Das bedeutet, dass sich Mitgefühl und Selbstmitgefühl lediglich im Empfänger – das eigene Selbst oder Andere – unterscheiden. [4]

Mythenbuster - Weder Sich-Gehen-Lassen noch Selbstmitleid

Haben Sie in der Übung oben festgestellt, dass Sie sich selbst viel kritischer als eine:n enge:n Freund:in behandeln? Wenn ja, welche Bedenken kommen bei dem Gedanken daran auf, sich selbst künftig mit mehr Selbstmitgefühl zu behandeln?

Trotz der wachsenden Forschung zum unglaublichen Nutzen von Selbstmitgefühl leben wir in einer Gesellschaft, die eine freundliche, ermutigende Haltung sich selbst gegenüber nicht unbedingt fördert. Zum Teil wohl auch, weil wir Selbstmitgefühl oft mit anderen Konzepten verwechseln.

Einerseits setzen wir Selbstmitgefühl oft mit Zügellosigkeit bzw. Sich-Gehen-Lassen gleich. Wir nehmen dann an, dass sich selbst mit Wohlwollen zu behandeln so aussieht, dass man sich sämtlichen kurzweiligen Freuden zügellos hingibt. Also zum Beispiel den ganzen Tag auf der Couch verbringen, Fernsehschauen und Chips essen anstatt zur Arbeit zu gehen. Doch würden Sie als liebender Elternteil Ihrem Kind erlauben bis spät in der Nacht mit seiner neuen Konsole zu spielen? Vermutlich nicht, denn das Beste für jemanden zu Wollen bedeutet manchmal eben oft auch, sich durch sinnvolle Herausforderungen durchzuarbeiten, von seinen Fehlern zu lernen, und sich zu bemühen, eben weil man glücklich und möglichst frei von Leid leben möchte.

Andererseits wird Selbstmitgefühl oft mit Selbstmitleid verwechselt. Eine Person, die sich selbst bemitleidet, hat nicht die nötige Distanz zu ihren eigenen Problemen und übertreibt daher deren Ausmaß (siehe oben: „Über-Identifikation“). Sie ist außerdem überzeugt, dass sie die einzige Person auf der Welt sei, die so leidet (siehe oben: „Isolation“). Selbstmitleid hört sich nach „immer, immer ich, ..“ an und fördert letztlich ein Gefühl der Hilflosigkeit in der aktuellen unangenehmen Situation. Im Gegensatz dazu erkennt eine selbstmitfühlende Person ihr gegenwärtiges Leiden an, ohne jedoch darin zu versinken (siehe oben: „Achtsamkeit“). Gleichzeitig findet sie Trost und Verbindung in dem Wissen, dass es Anderen sicherlich genauso oder vielleicht sogar noch schlechter geht. Sie können also die Perspektiven von Anderen einfacher übernehmen als weniger selbstmitfühlende Menschen. [5] Daraus entsteht dann ein Gefühl der Verbundenheit zu Anderen, was eine Quelle von Trost darstellt.

Selbstmitgefühl


Die Vorteile sind vielfältig und trainierbar

Selbstmitgefühl beschützt uns nicht nur vor der psychischen Belastung im Zuge der Covid-19-Pandemie, sondern hat einen generellen beschützenden Einfluss auf unser psychisches Wohlergehen. So fand eine Metaanalyse, also eine wissenschaftliche Studie die die Ergebnisse mehrerer Studien zusammenfasst, heraus, dass Menschen mit mehr Selbstmitgefühl generell weniger anfällig für Stress, Angst, und Depressionen sind. [6] Auch ist Selbstmitgefühl mit weniger Selbstkritik, Gedankenunterdrückung, und Grübeln (Rumination) verbunden. [7] In unserem Artikel zu Perfektionismus haben wir Selbstmitgefühl als hilfreiches Gegenmittel zu ungesundem Perfektionismus, inklusive einer Übung zum Selbstmitgefühlstraining, vorgestellt. Ungesunder Perfektionismus ist unter anderem mit einer stark erhöhten Anfälligkeit für Depression verbunden, wovor uns eine selbstmitfühlende Haltung beschützen kann. [8]

Selbstmitfühlende Menschen sind außerdem resilienter, das heißt sie können mit belastenden Erlebnissen besser umgehen und erholen sich schneller von diesen. [9] Das ist unter anderem auch dann wichtig, wenn wir unsere Leistung verbessern wollen. Entgegen der geläufigen Annahme, dass man hart zu sich sein müsse, um seine Ziele zu erreichen, zeigt neueste Forschung das Gegenteil: Wer mehr Selbstmitgefühl hat, ist motivierter für seine Ziele zu arbeiten. [10] Und auch wurde inzwischen gezeigt, dass selbstmitfühlende Menschen eine höhere Lebenszufriedenheit aufweisen. [4, 11]
Doch bedeutet dies, dass Selbstmitgefühl zu diesem positiven Effekt führt? Hierzu können wir uns die Ergebnisse von Studien anschauen, in denen Leute über mehrere Monate gezielt in ihrem Selbstmitgefühl gefördert werden. Ein Beispiel ist das von Kristen Neff und Chris Germer entwickeltes 8-wöchiges Programm Mindful-Self Compassion (MSC). Es konnte gezeigt werden, dass Teilnehmer nach dem Ende des MSC Programms tatsächlich geringere Angst-, Depressions-, und Stresswerte aufweisen als Teilnehmer in einer Kontrollgruppe. Außerdem wiesen die Programmteilnehmer deutlich höhere Selbstmitgefühlswerte auf als die der Kontrollgruppe – ein klarer Hinweis darauf, dass Selbstmitgefühl trainierbar ist, und das sogar langfristig, denn diese Effekte waren nach einem Jahr noch beobachtbar. [12]

Übung: Tarnumhang-Technik

Ziele: Kennenlernen von Achtsamkeit, Geteilte Menschlichkeit, und Selbstfreundlichkeit, Erfahren einer selbstmitfühlenden Haltung

Ein paar gute Gründe: Fördert Wohlbefinden und Resilienz

Hintergrund: In JK Rowlings Harry Potter besitzt Harry einen magischen Tarnumhang, mit dem er für alle anderen Personen unsichtbar ist. Er kann damit alles was um ihn passiert unvoreingenommen wahrnehmen und muss währenddessen auf seine Umgebung achten, damit er nicht gegen andere Personen oder Dinge stößt. So kann vor allem der Aspekt „Achtsamkeit“ des Selbstmitgefühls symbolisch dargestellt werden, zunächst in Bezug auf eine nahestehende Person und schließlich auf sich selbst.

Anleitung:

1) Erinnern Sie sich an eine Situation in der letzten Woche, in der Ihnen etwas missglückt ist, in der Sie kritisiert wurden, oder in der Sie unangenehme Gefühle (z.B. Wut, Angst, Eifersucht, Traurigkeit) erlebt haben. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit die Situation in ihrem Kopf revue passieren zu lassen. Was haben Sie gefühlt? Was haben Sie gesagt? Was haben Sie getan oder was vielleicht nicht getan?

2) Beobachten Sie nun, welche Gefühle und Gedanken aufkommen, wenn Sie auf Ihre Situation mit ein wenig Abstand blicken. Achten Sie besonders auf den Umgangston mit dem Sie sich selbst begegnen. Ist der Ton eher tröstend, verständlich, und fair oder kritisierend, entmutigend und unfair?

3) Atmen Sie für einige Atemzüge tief in ihren Bauch ein und versuchen Sie dabei Ihren Brustkorb zu öffnen.

4) Blicken Sie nun nochmal auf die unangenehme Situation zurück. Dieses Mal beobachten Sie ihre:n beste:n Freund:in, wie er die Situation durchlebt. Wie in JK Rowlings Harry Potter tragen sie einen Tarnumhang, der Sie für alle, auch Ihrem:r Freund:in, unsichtbar macht. Sie nehmen die Gedanken. Gefühle, und Handlungen ihres:r besten Freund:in wahr und beobachten diese einfach.

5) Was braucht er bzw. sie in diesem Moment? Braucht er Ermunterung? Oder einfach eine Umarmung? Muss er kurz seine Wut ausdrücken? Mit diesem Wissen und mit dem Wunsch, dass es ihm bzw. ihr bald wieder gut geht, begegnen Sie nun Ihrem:r besten Freund:in. Beobachten Sie wie er bzw. sie reagiert.

6) Atmen Sie nochmal für einige Atemzüge tief in Ihren Brustkorb ein.

7) Blicken Sie nun ein letztes Mal auf die unangenehme Situation zurück. Was hätten Sie in dieser Situation gebraucht? Versuchen Sie, sich das jetzt noch im Nachhinein zu geben.

Tipp: Wenn Sie das nächste Mal in eine unangenehme Situation geraten, können Sie diese Schritte – achtsames Beobachten, Anerkennen der geteilten Menschlichkeit, und Selbstfreundlichkeit – anwenden.

Bonustipp: Wenn Sie bemerken, dass Sie sich schwertun mit dem Übernehmen einer selbstmitfühlenden Haltung, erinnern Sie sich daran, dass auch dies vielen anderen Menschen so geht. Oft haben wir über viele Jahre genau das Gegenteil von Selbstmitgefühl gelernt. Mit etwas mehr Geduld und Ausdauer werden Sie Schritt für Schritt zu mehr Selbstmitgefühl finden.

Referenzen:

[1] Arora, T. et al. The prevalence of psychological consequences of COVID-19: A systematic review and meta-analysis of observational studies. J Health Psychol 27, 805–824 (2022).

[2] Matos, M. et al. Compassion Protects Mental Health and Social Safeness During the COVID-19 Pandemic Across 21 Countries. Mindfulness 13, 863–880 (2022).

[3] Deniz, M. E. Self-compassion, intolerance of uncertainty, fear of COVID-19, and well-being: A serial mediation investigation. Pers. Individ. Differ. 177, 110824 (2021).

[4] Neff, K. D. Self-Compassion: An Alternative Conceptualization of a Healthy Attitude Toward Oneself. Self and Identity 2, 85–101 (2003).

[5] Neff, K. D. & Pommier, E. Self-compassion and other-focused responding. in 8th Annual Convention of the Society for Personality and Social Psychology, Albuquerque, New Mexico (2008).

[6] MacBeth, A. & Gumley, A. Exploring compassion: a meta-analysis of the association between self-compassion and psychopathology. Clin Psychol Rev 32, 545–552 (2012).

[7] Neff, K. D., Kirkpatrick, K. L. & Rude, S. S. Self-compassion and adaptive psychological functioning. Journal of Research in Personality 41, 139–154 (2007).

[8] Ferrari, M., Yap, K., Scott, N., Einstein, D. A. & Ciarrochi, J. Self-compassion moderates the perfectionism and depression link in both adolescence and adulthood. PLOS ONE 13, e0192022 (2018).

[9] Bluth, K., Mullarkey, M. & Lathren, C. Self-Compassion: A Potential Path to Adolescent Resilience and Positive Exploration. Journal of Child and Family Studies 27, (2018).

[10] Breines, J. G. & Chen, S. Self-Compassion Increases Self-Improvement Motivation. Pers Soc Psychol Bull 38, 1133–1143 (2012).

[11] Bluth, K. & Blanton, P. W. The influence of self-compassion on emotional well-being among early and older adolescent males and females. J Posit Psychol 10, 219–230 (2015).

[12] Neff, K. D. & Germer, C. K. A pilot study and randomized controlled trial of the mindful self-compassion program. J Clin Psychol 69, 28–44 (2013).


David Berger

David studiert an der Universität in Innsbruck Psychologie im Bachelor. Sein vorheriges Studium in Molekularbiologie mit der damit einhergehenden präzisen Denkweise mischen sich mit einem großen Interessen an Buddhismus, Yoga, und weiteren Methoden der tiefen Selbsterfahrung. Er hofft diese Interessen in seiner zukünftigen Praxis in einer ganzheitlichen psychotherapeutischen Arbeit zu kombinieren.

Dr. Melanie Hausler

Dr. Melanie Hausler ist Psychologische Psychotherapeutin, Gesundheits-, Arbeits- und Organisationspsychologin, Trainerin für Positive Psychologie und Autorin von "Glückliche Kängurus springen höher". Sie ist als Psychologin und Coach in freier Praxis tätig und hält Vorträge und Workshops. Zudem ist sie Geschäftsführerin des Zentrums für Integrative Positive Psychologie ZIPP und verbindet dort die Vorteile der Positiven Psychologie mit den Stärken verschiedener anderen Disziplinen.